
| Jahr | Seiten | Format | ISBN |
| 1971 | 141 | Softcover | 9783499114977 |
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„(…) Die verschiedensten Typen von Straßenbeleuchtungen präsentieren sich wie ein Musterkatalog auch an Ecken und Plätzen, als ob jeder Ressortchef die Amtspflicht hätte, zunächst die Entscheidungen seines Vorgängers aufheben zu müssen. Bei Nacht geben bläuliche, gelbliche und rötliche Weißtöne eine fade Lichtsoße. Sie werden von Beleuchtungsexperten nach dem jeweils neuesten Stand der Technik ausgewählt, wobei nicht Stimmungswerte, räumliche Qualitäten oder Wohlbefinden eine Rolle spielen, sondern ausschließlich die errechneten Lichtmengen pro Quadratmeter Fahrbahn. Auch Fußgängerbereiche werden ungemütlich ausgeleuchtet, denn im Halbdunkel lauert die Unsittlichkeit. Während man bereit ist, für das Auto alle Opfer zu bringen, müssen die Möglichkeiten der Stadtbenutzung für den Fußgänger dem Verkehr mühsam abgerungen werden. Aber auch für ihn ist in diesem Spiel gesorgt. Zebrastreifen bezeichnen die Stellen, wo er gewisse Chancen hat, die Straße ungefährdet überqueren zu können, wenn er sich beeilt, um noch bei Grün hinüberzukommen. Solche Furten sind bezeichnet wie die Wildwechsel im Walde, und sie werden von manchen Autofahrern dementsprechend wenig beachtet. In fortschrittlichen Städten schickt man mal das Auto, mal den Fußgänger unter die Erde. Solche Unterführungen erinnern meistens an den Charme öffentlicher Bedürfnisanstalten und sind dementsprechend schlecht belüftet und beleuchtet. Eine heitere Markierung durch ein Männchen auf einer Treppe lädt zum Besuch ein. Straßen werden durchgebrochen, Querstraßen aufgehoben, Straßenbahnen verlegt, Buslinien eingestellt und Millionen im Boden vergraben mit dem einzigen Ergebnis, daß aus einer engen verstopften Straße eine breite verstopfte Straße wird. Damit kann die Katastrophe noch ein Weilchen hinausgezögert werden. Dafür gleicht aber das räumliche Angebot der städtischen Verkehrsstraße einer verlassenen Wohnung, in der die Wandalen gehaust haben. Nicht anders ergeht es den kleinen und großen Plätzen in allen Teilen der Welt, wo der Wohlstand dem Bürger die motorisierte Fortbewegung beschert hat. Zahlreiche historische Plätze hat man in den kriegszerstörten Städten wieder aufgebaut und Millionen in die denkmalgeschützten Fassaden gesteckt. Nur die Widmung der Plätze als Räume der Öffentlichkeit blieb ungeschützt. So sind die meisten von ihnen heute im Stadtplan mit einem großen P als „Parkplatz“ bezeichnet. Ob Schiller in Stuttgart, Goethe in Frankfurt, Ernst August in Hannover oder Mozart in Salzburg von ihren Marmorsockeln herunterschauen, sie alle finden sich gleichermaßen eingekeilt von Mercedes, Fiat, Opel und VW. Parkplatzsuchende Autos drehen sich in ratlosem Ringelreihen, um wie die Kinder bei der Reise nach Jerusalem noch einen freien Platz zu finden. Liegen die Plätze gar im Vorfeld eines Ministeriums oder einer Behörde, so wird das öffentliche Eigentum zur Aufstellung des motorisierten Privateigentums städtischer oder staatlicher Angestellter beschlagnahmt. Nur auf älteren Postkartenoder Werbeprospekten kann man sich darüber informieren, wie die Plätze eigentlich aussehen sollten. Aber auch das räumliche Angebot der neuen Siedlungen im Grünen, der sogenannten Trabanten oder Satellitenstädte, wo man nicht den Zwängen der alten Stadt unterworfen war, ist nicht viel stimulierender. Weitmaschige Häuserzeilen stehen herum wie abgestellte Koffer in einer Grünlandschaft, die Licht, Luft und Sonne verspricht, aber von niemandem recht genutzt werden kann. Das räumliche Erlebnis der neuen Stadt erschöpft sich in Garagentoren, die auf beiden Seiten die Straßen säumen, und in Berberitzenhecken und Zierahorn, mit denen sich landschaftsgärtnerische Kunst dokumentiert. Die Straßen der neuen Stadt sind breit genug und bieten — zumindest tagsüber, weil die Autos zur Arbeit gefahren sind — Hausfrauen und Schulkindern zwar genügend Platz, aber keinen Raum. Dieser Pervertierung des Straßenraums liegt allzuoft die mangelnde Kenntnis seiner sozialen und räumlichen Bedeutung zugrunde. Einst ein öffentlicher Bereich der Kommunikation, der öffentlichen und politisch und Gewerbes, ein Gemeinschaftsraum für alle mit vielerlei verschiedenen Funktionen, ist die Straße heute ein gerichtetes Bündel isolierter Stränge, die nur der Funktion des Verkehrs dienen: Gehweg, Randstein, Parkstreifen, Schrammbord, Fahrbahn, Trennungsstrich, Gleiskörper und Zwischenstreifen. Die Straße hat ihre räumlichen Dimensionen verloren und ist zu einer Addition eindimensionaler Richtungen geworden. Die “Autonomie des Autos hat sich einen Verkehrsraum geschaffen, in dem es nur noch eine einzige sinnvolle Bewegungsrichtung gibt: die nach vorn. Nach links und rechts besteht nur ein geringer Bewegungsspielraum, der zum Überholen oder Ausweichen nötig ist. Jedes Verweilen ist sinnlos und wird unmöglich gemacht, denn es wird ohnedies an Hauptverkehrsstraßen wie an engen Straßen durch entsprechende Verbotstafeln verhindert. Wird aber nicht gerade das als Vorteil gegenüber den haltestellengebundenen öffentlichen Verkehrsmitteln bezeichnet, daß der Privatwagen die Möglichkeit habe, anzuhalten, wo er wolle? So wird der Straßenraum anonym und vollständig einer einzigen Funktion gewidmet, dem Verkehr. Der früher individuelle und vielfältige Straßenraum wird monofunktional. Was früher qualitativ verschie denartig und spannungsreich war, wird objektiviert und einer quantitativen Behandlung zugänglich gemacht, die der Experte als die Leistungsfähigkeit einer Straße bezeichnet. Diese Leistungsfähigkeit drückt sich aus in der Zahl von Fahrzeugen pro Stunde. Sie kann gesteigert werden durch elektronisch gesteuertemLichtanlagen, Geschwindigkeitserhöhungen und Verbesserungen des Fahrverhaltens.
(…)“